Predigt 5. Mose 6, 4-9

Predigt über 5. Mose 6, 4-9 am 22. Juni 2014 (1. So. n. Trinitatis) in der St. Johanneskirche Rerik

Propst Dr. Horst Gorski

 

„Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR [wörtlich: Jahwe, unser Gott, ist einer]. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst. Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn tragen, und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.“

Liebe Gemeinde,

man sagt, wenn Juden auf die Flucht gehen, nehmen sie zweierlei mit: Ihre Kinder und ihre Bücher. So geben sie ihren Glauben an den einen Gott, geben sie ihre Traditionen von Generation zu Generation weiter. Die Anweisung, diese Worte auf die Hand und auf die Stirn zu binden, nehmen sie wörtlich: Beim Gebet werden Gebetsriemen mit kleinen Kästchen angelegt, in denen Bibelworte aufgeschrieben sind. Und an jeder Tür eines jüdischen Hauses oder einer Wohnung klebt am Rahmen die sog. Mesusa, ein kleines Schächtelchen, in dem diese Worte aufgeschrieben sind: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einer!“ Bei jedem Gang durch die Tür werden sie so daran erinnert, dass Gott zu Ihnen spricht: „Höre Israel!“. Auf diese Weise überlebt der jüdische Glaube an Gott nun schon seit Jahrtausenden. Nicht nur die 40 Jahre im Babylonischen Exil – das war die Zeit, als dieser Bräuche sich bildeten – sondern auch die vielen Jahrhunderte seit dem Untergang des jüdischen Staates 135 bis zu seiner Neugründung 1948.

Tradition und Glaube über so viele Jahrhunderte zu bewahren – was für eine gewaltige Aufgabe! Nicht zu vergessen, dass Gott uns anspricht. Wir tun uns heute in viel kürzeren Zeitspannen viel schwerer. 40 Jahre real existierender Sozialismus und staatlich verordneter Atheismus haben viele Menschen vergessen lassen, dass es Gott gibt. Eine Kollegin sagte neulich: „Bei uns haben die Menschen vergessen, dass sie Gott vergessen haben.“ Und im westlichen Teil Deutschlands geht der Trend inzwischen in dieselbe Richtung. Nicht staatlich verordnet, aber die Tradition wird in den Familien kaum noch weitergegeben, bricht ab, man kann sich auch ohne Gott offenbar ganz gut einrichten in dieser Welt. „Höre, Israel“, oder heute: „Hört, ihr Menschen, es gibt einen Gott…“

Jesus lebte in der Tradition seines Volkes, und als er nach dem höchsten Gebot gefragt wurde, hat er genau mit diesen Sätzen geantwortet: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einer. Und du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deiner Kraft.“ Und Jesus hat ergänzt: „…und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10, 27)

Man kann in diesem Text das Grundbekenntnis zum Monotheismus sehen, als die Wende von der Verehrung vieler Götter zu dem einen einzigen Gott und dem Gebot, nur ihn zu lieben. Heute wird genau dieser Monotheismus oft verantwortlich gemacht für Gewalt und Krieg, die von den Religionen ausgehen. Denn wenn man alles auf eine Karte setzt, nur einen einzigen Glauben für den einzig wahren hält, führt das dann nicht automatisch zu Intoleranz und Gewalt? Die Geschichte unserer christlichen Kirchen ist voll von Beispielen dafür, wie Ketzer, Andersgläubige, jeder, der einen abweichenden Glauben hatte, bestenfalls ausgeschlossen wurde aus der Gemeinschaft, schlimmstenfalls verfolgt, gefoltert, verbrannt. Kriege wurden im Namen dieses einen Gottes geführt. Und wenn man sich heute die Nachrichten nur eines Tages anhört: Von den Taliban in Afghanistan über die Boko Haram in Nigeria bis zur Isis im Irak dann scheint die ganze Welt in Atem gehalten zu werden von religiösen Extremisten, die – bei allen Unterschieden – letztlich diesem einen Grundsatz folgen, nur einen einzigen Gott und einen einzigen Glauben für richtig zu halten und diese eine Wahrheit allen anderen aufzwingen zu wollen. Und wenn es heute auch überwiegend islamische Extremisten sind, so müssen wir der Ehrlichkeit halber doch sagen: Es gab Zeiten, da haben christliche Fanatiker dasgleiche getan.

Manche Menschen denken deshalb heute: Eine Welt ohne Religionen, ja ohne Gott, wäre eine bessere Welt: freier, friedlicher, toleranter. Am besten wäre es, alle Religion zu überwinden und hinter zu lassen. Und so sehr es mich persönlich schmerzt: Angesichts der vielen Probleme, die von den Religionen ausgehen, kann ich sogar verstehen, dass manche Menschen so denken.

Was kann man tun? Wäre eine Welt ohne Gott wirklich besser? Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht. Diejenigen von Ihnen, die 40 Jahre in einem atheistischen Staat gelebt haben, werden besser beurteilen können, ob die Probleme damit gelöst waren. Aber wohl eher nicht. Mir kommt bei dieser Debatte immer ein Satz des Dichters Novalis in den Sinn, der geschrieben hat: „Wo keine Götter sind, walten Gespenster.“ Das heißt, wo Gott nicht ist bzw. nicht an ihn geglaubt wird, da wird es nicht besser, sondern erst recht gespenstisch. Denn die Lücke, die dann entsteht, wird ja nicht einfach durch Menschlichkeit ausgefüllt, sondern durch Ideologien und menschliches Machtstreben. Dann schwingen sich Menschen zu Herren über Leben und Tod auf. Und das kann man wohl auf allen Seiten beobachten: Sowohl beim verordneten Atheismus kommunistischer Staaten wie auch beim schleichenden Atheismus der westlichen Welt. Wenn der DAX an die Stelle Gottes – oder wenn das zu viel gesagt ist: aber doch an die Stelle von menschlichen Werten – tritt, dann hat Novalis recht: Wo keine Götter sind, walten Gespenster.

Für mich ist die Abkehr von Gott keine Alternative, im Gegenteil. Die Aufgabe aber, die sich uns meiner Meinung nach stellt, ist die: Unseren Glauben immer wieder daraufhin kritisch zu prüfen, ob er wirklich noch Jesus nachfolgt und insbesondere an seinem Liebesgebot ausgerichtet ist. Und das heißt dann als erstes: Wir brauchen eine Selbstreinigung der Religionen vom Geist der Gewalt; eine Selbstreinigung der Religionen und auch unseres Glaubens von jeder Art von Menschenfeindlichkeit und Intoleranz. Da sollte man dann nicht nur mit Fingern auf den Islam zeigen, sondern auch sich selbst angucken, wo von uns Intoleranz ausgeht, wo wir Menschen beurteilen, verurteilen, Vorurteile transportieren oder wo wir Menschen am Rande unserer Gesellschaft ausschließen. Die Liebe ist noch lange nicht verwirklicht, auch bei uns nicht.

In Europa haben vor zwei, dreihundert Jahren eine Epoche erlebt, die man die Aufklärung nennt. Kant hat das so schön ausgedrückt: Der Mensch bricht aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit auf und fängt an, sich seiner Verstandes zu gebrauchen. Diese Aufklärung ist von den Kirchen, auch den evangelischen Kirchen, keineswegs offenen Armen begrüßt worden. Zu sehr hatte man Angst, dadurch könnte der Glaube in Frage gestellt werden. Am Ende aber haben die protestantischen Kirchen diese Gedanken aufgenommen, wohl auch weil sie gemerkt haben: Damit kommt die Botschaft Jesu noch einmal ganz neu zum Leuchten. Die Werte der Aufklärung sind Freiheit, Vernunft und Toleranz. Und im Grunde ist das nichts anderes, als die Liebe, von der Jesus gesprochen hat, konkret in die Tat umzusetzen. Denn Liebe ohne Freiheit wird zu einem Gefängnis. Liebe ohne Vernunft wird blind. Liebe ohne Toleranz wird heuchlerisch.

Wenn ich mir die religiöse Landschaft auf der Welt heute ansehe, dann scheint mir, dass das protestantische Christentum eine der wenigen Formen von Religion weltweit ist, die diese Werte der Aufklärung in sich aufgenommen hat. Darum hätten wir heute die Aufgabe, unsere Stimme viel lauter und selbstbewusster zu erheben, als wir es tun, und in das Konzert der vielen Stimmen, Religionen und Weltanschauungen diese Botschaft einzubringen von dem Gott Jesu Christi, der Liebe ist, und zwar eine Liebe, die für alle Menschen Freiheit, Vernunft und Toleranz will.

Dies im Leben durchzuhalten, ist gar nicht so einfach. Die Vernunft zu gebrauchen, war schon immer anstrengend und ist es heute auch. Ich sehe in manchen Teilen unserer Gesellschaft eine Art Vernunftverdrossenheit, d.h. eine Müdigkeit, die Vernunft zu bemühen und sich stattdessen mit scheinbar einfachen Parolen und Lösungen zufrieden zu geben. Ob die Ausländer an allem Schuld sind oder die Wirtschaftsbosse oder der Islam – es scheint eine Sehnsucht zu geben, sich die Dinge einfach zu machen, Schuld zu verteilen und Sündenböcke zu suchen. Dem sollten wir – so verstehe ich die Botschaft Jesu – im Namen der Liebe widersprechen.

Auch Toleranz durchzuhalten, ist wirklich nicht leicht. Wenn Menschen so ganz anders leben als ich; wenn sie mich stören mit ihren fremden Verhaltensweisen; wenn sie mich kritisieren… Ich bin so gern tolerant, so lange es mich nicht selber betrifft…. Der gute Wille zur Toleranz verbraucht sich so leicht.

Woher sollen diese Werte kommen? Woher soll ich als einzelner Mensch immer wieder die Kraft aufbringen, zu lieben, Freiheit zu geben, meine Vernunft zu gebrauchen, Toleranz zu üben? Ich glaube, unsere säkulare Gesellschaft heute lebt von Werten, die sie sich selbst nicht geben kann. Diese Werte sind im Schwinden, sie verstehen sich nicht von selbst. Deshalb ist es mir so wichtig, was wir zu verkündigen haben, und ehrlich gesagt, manchmal bin ich sogar ein wenig stolz, protestantischer Christ zu sein: Mein Leben auf einen Gott zu gründen, der ein Gott der Liebe, Freiheit, Vernunft und Toleranz ist. Zu Kindern sagt man manchmal: „Schreib dir das hinter die Ohren!“ Die Juden schreiben sich ihre wichtigsten Sätze in ihre Gebetsriemen und an ihre Türen. Ich glaube, unsere Botschaft gehört einfach ins Herz. Da gehören Liebe, Freiheit, Vernunft und Toleranz rein. Und unser Herz liegt in Gottes Hand. Er verwandelt uns mit seiner Liebe. Amen.